Tapfer bleiben

In Zeiten des Corona-Virus und des verordneten Daheimbleibens nimmt der literarisch Interessierte gern ein Buch zur Hand, in dem ein Dichter eine Epidemie und ihre Wirkungen auf die Menschen schildert. Die pikanten Liebesgeschichten in Boccaccios „Decamerone“ erzählen sich junge und reiche Adlige, die vor der Pest aus Florenz aufs Land geflohen sind. Dr. Volkmar Stein, der kurzfristig als Referent im Literarischen Salon einsprang, entschied sich für weniger Amüsantes – das Leben von Menschen, die in ihrer Stadt eingeschlossen sind. „Die Pest“ heißt der bekannteste Roman des französischen Literaturnobelpreisträgers Albert Camus. Er spielt in den vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts in Oran, einer Stadt im damals noch französischen Algerien. Geradezu gespenstisch setzt die Handlung ein: in exponentiell wachsender Zahl tauchen todkranke Ratten aus dem Untergrund auf, um zu sterben. Die Bewohner von Oran sind nicht amüsiert, ahnen aber noch nicht, dass es vielen von ihnen bald so gehen wird wie den Ratten. Sie fühlen sich erleichtert, als keine toten Nager mehr zu finden sind. Aber gerade da wird der erste Mensch von einer noch nicht definierten Krankheit erfasst, einem typhoiden Fieber, begleitet von Beulen und Erbrechen. Es greift rasch um sich und führt fast immer nach wenigen Tagen zum Tode.

Der Roman liest sich über weite Strecken wie eine Sozialreportage von Egon Erwin Kisch. Er protokolliert die Phantasielosigkeit des Präfekten und der Verwaltung, den schrecklichen Verlauf der Krankheit mit medizinischen Details an konkreten Einzelfällen. Er beschreibt die sich verändernden Reaktionen der Bevölkerung auf die Krankheit wie auf das Eingeschlossensein – Oran wird abgeriegelt, „soziale Distanz“ der Einwohner im Sinne von 2020 wird noch nicht verordnet . Er schildert die Bereitschaft einzelner, sich in freiwilligen Sanitätsgruppen zu engagieren. Etwa ein Jahr nach ihrem Auftauchen ist die Pest besiegt.

Im „Uralten Rathaus“ von Büdingen galt das Gespräch vor allem Dr. Bernard Rieux, der positiven Zentralfigur des Romans. Im Mittelpunkt steht er nicht nur als Arzt und Organisator der Abwehrmaßnahmen, sondern auch als Denker, der die Philosophie seines Autors Camus handelnd wie redend vertritt. Er sieht den Menschen in einer absurden Welt, die auf seine Fragen keine Antwort hat. Der Sisyphos der griechischen Mythologie ist dazu verurteilt, immer denselben Felsbrocken auf den Gipfel eines steilen Berges zu wälzen und hinabfallen zu sehen. In einem philosophischen Werk meint Camus, man müsse sich Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen. Er beugt sich nicht, er revoltiert, er ist tapfer. Als in Oran das Ende der Pest gefeiert wird, denkt Rieux daran, dass diese Fröhlichkeit ständig bedroht ist. Der Pestbazillus stirbt niemals aus. Pater Paneloux, der das Leid als Strafe Gottes interpretieren will und vom Tod eines unschuldigen Kindes erschüttert und widerlegt wird, kommt im Roman nicht gerade gut weg. Aber Tapferkeit zählt auch bei den Christen zu den Kardinaltugenden.